Wahrnehmung –
Gründe für Crosslit

Ein Blick über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus führt in neurobiologische Sachgebiete und rückt Phänomene der Wahrnehmung in den Mittelpunkt.

Was Neurobiologen über die verschiedenen Leistungen des Gehirns wissen, die mit Sehen, Hören Lesen verbunden sind, ist nicht nur spannend. Es ist auch nützlich für das literarische Experimentieren mit unterschiedlichen Textvorlagen für das Lesen und Hören mit dem Ziel, die Möglichkeiten für die Verbreitung eines literarischen Werks zu optimieren. Solches Wissen kann im Selfpublishing kreativ und erfolgreich angewandt werden. Es kann auch Verlage anregen, neue Wege in der Doppelverwertung literarischer Werke als Hörbücher und als gedruckte Lesebücher einzuschlagen.

Das Sehen, das Hören sind evolutionär entwickelte Fähigkeiten des Gehirns, die das Überleben der Menschheit sichern. Sie steuern kommunikativ und kulturell elementare Verhaltensweisen. Situationsbedingt aktivieren die Sinne Neuronen und Gehirnareale in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Kombinationen. Die Strukturen der Wahrnehmung sind im Gehirn so fest verankert, dass sie auch jenseits der Notwendigkeit für das Überleben, ständig und immer den Lebensalltag begleiten und in Teilen regulieren. Neben dem Sehen und Hören bestimmen auch das Riechen, Schmecken und Tasten die Wahrnehmungen im Alltag.

Das Wort Wahrnehmung beschreibt sehr gut die Funktion: Über die „Sinne“ verarbeitet das Gehirn physische Reize aus der Außenwelt und gibt diesen Reizen einen „Sinn“. Der Prozess vom Einlass eines Reizes bis zur Zuordnung eines Sinns ist organisierte Arbeit des Gehirns. Das Gehirn filtert aus den fast unzähligen sinnlichen Eindrücken das „Wahre“ heraus. Wahr ist, was ein Mensch über Sinne vermittelt für wahr hält. Wahrnehmungen sind gleichsam Formulare für die Reize, die in uralte Strukturen des Gehirns eingebunden sind. Was Menschen wissen, wie sie etwas erfahren, folgt evolutionär den Ergebnissen, wie Sinne arbeiten und die Signale über das Gehirn als Wahrnehmung der Welt interpretieren.

Wie funktionieren die Sinne, und wie laufen die Prozesse der Wahrnehmungen ab, wie entstehen Wissen über die Welt und Gedanken und Gefühle über Wahrgenommenes?

Von Natur aus ist das Gehirn zunächst nicht an einer Vermessung der Welt außerhalb der Erlebnisse im Alltag interessiert gewesen. Wahrnehmung ist evolutionär als eine Rekonstruktion der Umwelt durch die Signalverarbeitung im Gehirn entstanden und folgt sozialen und individuellen Bedürfnissen des Einzelnen und der Gruppe. Die Ausbildung der Sinne setzt auf uralte bewährte Strategien, die das Ziel verfolgen, die Überlebenschance des Menschen zu erhöhen.
Was wir sehen, hören und mit den Sinnen wahrnehmen, ist eine zweckhafte Verarbeitung der Signale aus der näheren und ferneren Welt, die das Gehirn wahrnimmt, mit dem Ziel, so gut und sicher wie  möglich in ihr leben zu können.

Es gibt also keine absoluten Sinnesdaten an sich. Sinnesdaten sind vielmehr Simulationen durch das Gehirn. Es werden zum Beispiel keine Frequenzen des Lichts wahrgenommen. Aber seine physikalischen Eigenschaften werden als Farben gesehen. Vieles wird von unseren Sinnen überhaupt nicht erfasst. So hören Menschen nur in bestimmten akustischen Tonfrequenzen. Eine ganze Menge Weltgeschehen bekommen Menschen überhaupt nicht mit, da ihre ausgebildeten Sinne nur bestimmte Aspekte aus dem Spektrum des Wahrnehmbaren herausfiltern. Fledermäuse orientieren sich beispielsweise in der Welt der Tonfrequenzen vollständig anders als die Menschen. Es gibt also artenspezifische  Gehirne mit der Ausbildung der Sinne, die zu einem komplexen Wechselspiel der Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt führen, ein insgesamt fantastisches Zusammenspiel der Vielfalt in Natur und Kultur.

Heidrun Schultz vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaft in Leipzig fasste die neurologischen Forschungsergebnisse mit der Behauptung zusammen, dass im Gehirn permanent ein Optimierungsprozess stattfindet, "weil wir alles, was um uns herum wahrnehmbar ist, nicht gleichzeitig verarbeiten können". Wahrnehmung werde durch Lernen konditioniert und stelle eine Selektion dar. „Die Wirklichkeit um uns herum ist viel komplexer, als wir sie wahrnehmen können", konstatierte Schultz (2022). Filtern und Selektieren seien deshalb unerlässlich. Würden die Mechanismen des Filterns und Selektierens versagen, entstünden unter Umständen Krankheiten bildende subjektive Wirklichkeiten wie Psychosen. Man darf gespannt sein, wie künftig die Algorithmen für die Kritische Intelligenz digitaler Systeme gesetzt und im menschlichen Gehirn verarbeitet werden.

Welche Erwartungen sind an das Lesen geknüpft und welche an das Hören? Für Autorinnen und Autoren macht es Sinn, für das Gestalten der Vorlagen so gut wie möglich Perspektiven einzunehmen, in denen das Lesen und das Hörens in den Fokus rücken. Wenn literarische Produkte bestimmte Merkmale haben, die mit den Erwartungen an das Lesen oder an das Hören verbunden sind, dann haben die jeweils darauf ausgerichteten Produkte Vorteile auf den Lesemärkten oder auf den Hörmärkten.
Manche daraus folgende praktische Tipps gibt es bereits auf der Ebene des tradierten Marketings. Für die Grundlagen des Crosslit-Projekts ist über das Marketing hinaus das Wissen über die verschiedenen Vorgänge im Gehirn wichtig, die von der Verarbeitung des Sehens einerseits und des Hörens andererseits ausgelöst werden. Dabei ist die optische Erfassung von Texten – das Lesen – ein Sonderfall der Funktionen des Sehens.


Unterschiede der beiden Wahrnehmungen sollten mit Merkmalen der literarischen Werken und den Eigenschaften ihrer Produkte korrelieren. Auf diesen Zusammenhängen basiert die Crosslit-Philosophie. Aus der Erforschung und Interpretation solcher Zusammenhänge ergeben sich die Praxispotentiale des Crosslit-Projekts..

Das Lesen ist nach der Sprache neurobiologisch betrachtet eine erst sehr spät entstandene Leistung des Gehirns geworden, bis heute ein Sonderfall in der Natur. Nur Menschen haben mit Hilfe ihres Sehvermögens ein visualisiertes System der Decodierung von Bedeutungen entwickelt. Künstliche Zeichen für Aussagen und die soziale Definition dieser Zeichen wurden entwickelt  als ein Verfahren zur Verständigung und Übertragung von Bedeutungen.
Das Gehirn kann sinnliche Seheindrücke als Sprache fassen und mit anderen Menschen austauschen. Wird die Sprache in lesbare Zeichen übertragen, schafft das Zeichensystem die Voraussetzung, über das Dargestellte zu spekulieren. Durch diesen Transzendierungsprozess entstand die „Welt“ des Abstrakten, das Denken, die Religionen, die Vernunft. Das System der Wahrnehmung, des Verständnisses, der Verständigung und der Abstraktion ist nicht vom ersten Tag des Lebens an aktiv oder gar entwickelt. Es ist eingebunden in eine lange Lernzeit, schafft in vielen Kulturen hohe Gedächtnisleistungen und benötigt die ständige Einübung von einer Generation in die andere.

Maryanne Wolf ist Professorin für kindliche Entwicklung und Kognitionswissenschaften. Sie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen zwischen dem Gehirn und dem Lesen sowie besonders mit den empirisch feststellbaren Leseschwächen vieler Menschen. Sie forscht und lehrt an der Tufts University in Massachusetts und an der University of California in Los Angeles, Zentren der Neurobiologie. 2009 erschien ihr Buch „Das lesende Gehirn- Wie der Mensch zum Lesen kam“. Sie schreibt: "Wir sind nicht zum Lesen geboren. Es gibt keine Gene, die je die Entwicklung des Lesens befohlen hätten. Der Mensch erfand das Lesen erst vor wenigen tausend Jahren. Und mit dieser Erfindung veränderten wir unmittelbar die Organisation unseres Gehirns – was uns wiederum zuvor ungekannte Denkweisen eröffnete und damit die geistige Evolution unserer Art in neue Bahnen lenkte."

Beim Lesen handelt es sich um eine noch sehr junge „kulturelle Evolution“, die allerdings innerhalb biologischen, also durch die Natur definierten Grenzen erfolgt.
Das menschliche Gehirn als Organ unterscheidet sich heute in seiner Zusammensetzung und in seinen Strukturen nicht von dem der ersten Höhlenmenschen. Anders als die Menschen früherer Jahrtausende nutzen die Menschen inzwischen aber die bestehenden Hirnstrukturen anders. Lernen Menschen neue Fähigkeiten, wie zum Beispiel die Erschaffung von Zeichen und die Vermittlung ihrer Bedeutung zur Kommunikation miteinander, dann verwendet das Gehirn bereits bestehende Schaltkreise und passt sie an die neuen Gegebenheiten an, ein mühsamer Lernprozess.
Diese Anpassungsfähigkeit von Schaltkreisen und ihren Strukturen bezeichnet man als Plastizität des Gehirns. (L. Jäncke: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. Bern 2013)

Die Chemie der neuronalen Plastizität wird in einer schwierigen, nur Spezialisten zugänglichen Sprache dargestellt. Aber als Ergebnisse der Forschungen zur Plastizität des Gehirns werden die größeren evolutionären Zusammenhänge der Spezialisierungen im Gehirn am Ende in einfacher und allgemeiner Sprache deutlich. Neurone, die ursprünglich zum Erkennen von Gesichtern, Gestalten und Naturereignissen zuständig waren, reagieren nun sehr ähnlich auf Buchstaben, Wörter und Sätze.
Das Lesen aktiviert ausschließlich Hirnregionen, deren Spezialität die visuelle Identifikation von Gegenständen ist. So entstehen Vorstellungen und die inneren Bilder. Es gibt zahlreiche Untersuchungen, wie Menschen in bildgebenden Verfahren in den verschiedenen Sprachen reagieren. Alle Menschen, egal welche Sprache sie sprechen, „lesen“ mit der Aktivierung gleicher Gehirnregionen. Bei allen Schriftsystemen werden drei große Hirnregionen genutzt:

  1. der okzipitale -temporale Bereich (Sehbereich) => Erkennen und Entziffern der Schrift
  2. der frontale Bereich (Borca-Areal für das Sprachzentrum) => Phonetische Bedeutung
  3. der oberer Temporallappen (Hörzentren) und die benachbarten Parietallappen (Orientierungen für Rechnen und Schreiben) => Laut- und Bedeutungselemente bei Alphabet und Silbenschriften


Schon in dieser Systematik wird angedeutet, dass es unterschiedliche Verarbeitungsbereiche für die visuelle Erfassung der Schriftsprache (Lesen) und der akustischen Erfassung der gesprochenen Sprache (Hören) gibt. Diese unterschiedlichen Verarbeitungswege im Gehirn können weiterverfolgt werden, indem man die Prozesse untersucht, wie es zum „Verstehen“ von Sprache und Schrift kommt. Die Wissenschaftler unterscheiden dabei

  • den phonologischen Weg
  • und denlexikalischen Weg


Auf dem phonologischen Verarbeitungsweg werden die Buchstaben in Sprachlaute (Phoneme) umgewandelt (gesprochene Sprache). Auf dem lexikalischen Weg wird gleichsam der Zugriff auf ein Wörterbuch (des Gedächtnisses) möglich gemacht, in dem die Bedeutung der Worte (Semantik) mit Verknüpfungseigenschaften  der einzelnen Bedeutungsträger (Grammatik) verankert sind.

Der Lesevorgang ist, wie man schnell erkennt, um einiges komplexer, oft auch komplizierter als der Hörvorgang. Mit dem Eintritt der Kinder in die Schule werden bei einigen Kinder Lese- und Rechtschreibprobleme festgestellt. Unterschiede bei den Lernerfolgen des Schreibens und Lesens korrelieren sogar mit der jeweiligen Muttersprache. So kann ein finnisches oder italienisches Kind nach wenigen Monaten jedes Wort seiner Sprache lesen, weil es dort praktisch keine Unregelmäßigkeit zwischen Schrift- und Lautschrift gibt. Buchstaben und Sprechphonetik sind durch klare Regeln miteinander verbunden. Sobald ein Lernender verstanden hat, wie jedes Graphem (grafische Schriftzeichen, wie Buchstaben und Buchstabenkombinationen) auszusprechen ist, kann es alle Laute lesen und schreiben. Französische, dänische oder englische Kinder benötigen mehrere Jahre, um effizient lesen zu können. Selbst mit neun Jahren liest ein Franzose schlechter als ein Spanier oder Deutscher mit sieben Jahren, und ein englischer Schüler benötigt zwei Jahre zusätzlich, bis er das Leseniveau eines französischen Kindes erreicht hat (M. Wolf: s.o.,2009).

Lese- und Rechtschreibeschwächen haben empirisch starke Anteile in der Entwicklung des Lernens und wurden deshalb häufig erforscht. Solche Schwächen werden dagegen in Bezug auf die Entwicklungen des Sprechens und Hörens weniger wahrgenommen und problematisiert. Die akustisch basierten Lernaneignungen werden gemeinhin als natürlich empfunden, verlaufen einfacher als die Lesevorgänge. Kulturelle Unterschiede beim Hören interessierten wissenschaftlich erst, als man zu erklären versuchte, warum nur ein kleiner Teil der Menschheit die hohen Güter der Musik genießt und versteht oder in die klassischen Theater geht.

Ein Entwicklungsfortschritt im Sinne der Überlebensfähigkeit ist mit einer Ausdifferenzierung des Hörsinns durchaus bis zur Gestaltung von Sprache vorstellbar. Ohne das Lernen, Sprache in Zeichen zu übertragen (und diese Zeichen dekodieren zu lernen), ist die menschliche Kultur aber nicht vorstellbar. Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben bleibt Voraussetzung für die Analyse von komplexen Problemen und für das Strömen der Ideen und des kritischen Denkens. Lesen und Schreiben ermöglichen sachlich fundierte Debatten und sinnvolle Entscheidungen. Je besser Individuen im Lesen und Schreiben geschult sind, desto erfolgreicher können sie sozial interagieren, öffentliche Angelegenheiten formulieren und zu Entscheidungen beitragen, die dem Allgemeinwohl dienen.

Das Gehirn kann – je nach Stimulation – beim Lesen unterschiedliche Wahrnehmungs- und Denkfunktionen genau aufeinander abstimmen. Dazu gehören die grundlegenden visuellen Funktionen bis zur Imagination. Dazu gehört das breite Spektrum, akustische Reize zu verarbeiten bis zur inneren phonologischen Übertragung von Zeichensätzen. Dazu gehört ein geschultes Langzeit- und Arbeitsgedächtnis und vieles mehr, das zu inneren Abstraktionen befähigt.
Alle den natürlichen Zustand des Gehirns ausnutzenden Übungen, die ständige Anwendung synaptischer Funktionen und ein jahrelanges Training der Sinnesreize gehören zum Aufbau der Alltagskultur von Menschen. Es sind Lernprozesse, die oft ein Leben lang dauern, bis sich Lesen und Schreiben so tief einprägen, dass Menschen beides mühelos beherrschen.

Allerdings kann man Einiges dazu beitragen, dass dieser Lernprozess sicher und effektiv abläuft. Auch die Literatur kann ihren Teil dazu beitragen. José Morais von der Universität Brüssel hat festgestellt, dass Lesen die phonologische Bewusstheit der Sprache deutlich verbessert, also die Fähigkeit, bestimmte Laut- und Rhythmusstrukturen der Sprache zu erkennen. Dieser Zusammenhang wurde in der Literaturwissenschaft bisher kaum diskutiert. Für das Crosslit-Projekt ist er fundamental.

Zur Charakteristik der neuronalen Plastizität gehört auch, dass offensichtlich Synapsen zwischen optischen Eindrücken (Sehsinn beim Lesen) und Gehirnarealen verbunden werden, die von Natur aus das Hören verarbeiten. (In der Evolution lernte auf diese Weise der Jäger eine “Gefahr“ erkennen, wenn er ein Wildtier brüllen hörte, ohne es bereits sichten zu können.) Mit der Zeit bekam der Hörsinn für das Übersetzen der Zeichen und ihr Verstehen eine immer differenziertere Bedeutung, auch wenn er durch äußere Reize gar nicht aktiviert wurde. Man kann in diesem Sinne vom inneren Hören sprechen, ein synaptischer Tatbestand, der in anderer Weise auch für das innere Sehen gilt, wenn zum Beispiel Gelesenes oder Gehörtes wie in einem inneren Film abläuft oder erinnert wird.

Die möglichst starke Stimulation des Inneren nutzt z. B. die erzählende Literatur, indem sie möglichst viele Tatbestände und Gedanken personalisiert. Dialoge haben in den Lesetexten hohe Anteile und bestimmen als literarische Form des Erzählens die Bedeutung von Aussagen. Der Begriff Dialog heißt nichts anderes als Gespräch, Unterhaltung, verweist also auf die phonetische Grundlage der Verständigung.

Wissenschaftliche Literatur kann den phonologischen Weg eher nicht gehen. In diesen Segmenten der Leseliteratur ist es vielmehr wichtig, vollständig auf den lexikalischen Weg zu setzen und auf ihm systematisch das Wissen zu vertiefen und zu erweitern.

Für einen gebildeten Menschen ist es eine Ehre, ein Loblied auf das Lesen singen zu dürfen. Denn der wirkliche Segen der Lesekultur geht weit über das Lesen von Literatur hinaus. Mit den Auswirkungen der Leseanstrengungen auf das Gehirn, auf die Gesundheit der Menschen und des intersozialen Wohlgefühls werden unter evolutionären Gesichtspunkten auch Fragen berührt, die sich mit der Zukunftsfähigkeit der Menschheit beschäftigen. Denn der Umbau der medialen Systeme für die Kommunikation ist so vollständig, dass keiner langfristig voraussagen kann, was Digitalität mit den Menschen machen wird. Jedenfalls erweitern sich mit der Digitalität die Steuerungsfunktionen erheblich, die das Lesen der Menschen in der neuen Zeit prägen. Lesen als Inbegriff von Freiheit und Selbstbestimmung ist ab nun nicht mehr eine Selbstverständlichkeit.

„Use it or lose it“ - benutze es oder verliere es – so kann man die Leistungsfähigkeit des Gehirns beschreiben. Studien haben gezeigt, dass mentale Stimulation durch Lesen das Erinnerungsvermögen und andere Denkfähigkeiten intakt halten und fördern. Bei jedem Lesevorgang wird Konzentration gefordert. Allerdings konkurriert die visuelle Wahrnehmung der abstrakten Zeichen mit anderen, weniger Konzentration fordernde Leistungen des Sehsinns für die Wahrnehmung.
Zahlreiche Medien verdanken ihre Popularität dem Reiz bewegter Bilderfluten. Bewegte Bilder entschieden bereits in der natürlichen Evolution über das Überleben. Sie haben Wahrnehmungsmuster geschärft, bewegten Bildern höchste Beachtung zu schenken – man denke nur an das Verhalten im Verkehr auf den Straßen. Sie ziehen in ihren Bann und wirken, wenn es drauf ankommt, ohne Punkt und Komma. Bedeutung und Sinn erzeugen sie unmittelbar durch Anschaulichkeit und Bewegung.
In der kulturellen Evolution haben sich diese archaischen Funktionen des Sehsinnes technische Medien zunutze gemacht – man denke nur an Verfolgungsjagden in Actionfilmen oder an geheimnisvolle Mordfälle in Kriminalfilmen.

Medientechnisch kann man Bilder durch Maschinen erzeugen, sie künstlich in Bewegung setzen und in Ausschnitten vergrößern oder verkleinern. Schnelle Bildwechsel sind bewährte Mittel, um immer wieder neue Reize zu schaffen. Anders die Verarbeitung des Lesens im Gehirn. Beim Lesen guter Lektüre ist der Lesende der Dramaturg des Gelesenen. Keine Lesemaschine, sondern der Lesende verknüpft die einzelnen Wörter, den Satz, den Absatz mit etwas Ganzem, was sich mit innerer Spannung in seiner Aufmerksamkeit aufbaut. Beim Lesen eines Krimis beispielsweise bemüht sich das Gehirn, den Fall im Hintergrund selbst zu lösen. Allerdings dauert das Lesen des Krimi Stunden, in Abschnitten versetzt Tage. Im Film und Fernsehen, in dem der Zuschauer die Dramaturgie nach „außen“ an die Gestalter der Spielenden und der Medientechnik abgegeben hat, konzentriert sich die Verarbeitung im Gehirn auf oft weniger als zwei Stunden.

Über die Medien verändert sich der Zeiteinsatz für Lesen, Hören und Sehen. Täglich verbringen Menschen zwar Stunden an Bildschirmen und scrollen durch Social Media. Die Aufmerksamkeitsspanne scheint fast unbegrenzt, allerdings nicht für einzelne Inhalte. Kritiker meinen, Fernsehen, Computer und Smartphones halten vom konzentrierten Lesen ab, da sie keine Konzentratio0n fordern, sondern unablässig Ablenkungen bieten, kurzfristige Bedürfnisse schneller befriedigen, den Zeitvertreib „spannend“ machen.
Doch die Entweder-oder-Frage nach analog oder digital, nach Lesen oder Sehen ist nicht zukunftsfähig. Die unterschiedlichen Modi der Wahrnehmung liefern unterschiedliche Benefits. Fakt ist: Lesen, egal auf welchem Medium, ist keine Kunst, sondern eine Notwendigkeit. Und es ist politisch: Die durch das Lesen im Gehirn aktivierten Prozesse sind für die Neurobiologin Maryanne Wolf die Grundlage für eine offene und demokratische Gesellschaft: "Lesen schafft bessere Menschen und eine bessere Demokratie". Das ist ihre Überzeugung.

Der Vergleich zwischen Analphabeten und erwachsenen Lesern zeigt, wie sehr Lesenlernen unser Gehirn verändert. So haben Menschen, die nicht oder kaum lesen können, nicht nur größere Schwierigkeiten, Buchstabenfolgen zu erfassen, sondern auch Bildstrecken nach Bedeutungen aufzugliedern.
Im Zeitalter der neuen sozialen Kommunikationsmedien verlagern sich die Lernprozesse für die kulturelle Aneignung der Welt in ungekannter Schnelligkeit. Mit der KI (Kritischen Intelligenz) wird inzwischen eine neue Stufe erreicht, auf der das Verhältnis des menschlichen Gehirns zu den technischen „Gehirnen“, die in den Kommunikationsmaschinen zu Hause sind, neu austariert wird.


Noch wird die Literatur von dieser Entwicklung nicht systematisch erfasst. Aber in einigen ihr nahestehenden Bereichen wie im Journalismus werden bereits zahlreiche Felder durch KI beackert. Was Rezipienten sehen, hören oder lesen, kann nicht mehr in jedem Fall identifiziert werden. Stammt es unmittelbar von Menschen oder wird es durch KI erzeugt? Die Kluft zwischen kulturell „gebildeten“ und analphabetischen Menschen kann noch einmal wachsen.
Es ist an der Zeit, dass Autorinnen und Autoren sich den neuen Bedingungen ihrer kommunikativen Umwelt stellen und nach Wegen suchen, wie sie ihr Publikum mit Produkten finden können, die „schmackhaft“ für menschliche Gehirne sind, vor allem aber mit einer humanen Welt identifiziert werden können, in der die Kommunikation als ein Spiel der Sinne zwischen Menschen garantiert bleibt.

Literatur wird primär immer noch mit dem Lesen verbunden. Was sind die über das Gehirn erzeugten Benefits der Leseliteratur? Welche Gefühle fördern das Bewusstsein im Menschen, sich mit dem Lesen von Literatur etwas Gutes zu tun? Warum greifen wir zu einem Roman und was geschieht in den Köpfen der Menschen, wenn sie ein Buch oder eine Geschichte lesen?

Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen experimentieren die Forscher des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften auch mit der Kernspintomografie. In einer Studie berichten sie, dass beim Lesen belletristischer Literatur die linke Gehirnhälfte besonders aktiviert wird. In ihr werden beschriebene Situationen und geschilderte Handlungsabläufe als simulierte Vorstellungen von Bildern und Tönen verarbeitet. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass sich beim Lesen die Synapsen im Gehirn erhöhen und intensivieren. Einzelne Bereiche werden besonders stimuliert und gestärkt, wie die Großhirnrinde oder die Verbindung zwischen Sehrinde und Thalamus.
Für literarische Werke typisch sind die Perspektivwechsel zwischen verschiedenen Personen in den einzelnen textlichen Passagen. Das fördert eine besondere Fähigkeit des Gehirn: Es hat eine ganzheitliche Strategie entwickelt, um eine Ordnung der unterschiedlichen Perspektiven mit dem Ziel zu schaffen, das Selbstmanagement des Gehirns zu organisieren.

Herausforderungen des Perspektivwechsels gehören zum Grundbestand der Sozialität eines Menschen. Das Arsenal des Gehirns verstärkt im Umgang mit Perspektivwechseln die soziale Kompetenz und erarbeitet sich inmitten der Bilder, die es von der Welt bekommt, einen eigenen Platz. Lesen wird zum Verstehen.
Wer viel liest, lernt immer besser zwischen ihm wichtigen und ihm unwichtigen Informationen zu unterscheiden. Als eine „Theory of Mind“ werden die Verarbeitungsprozesse beschrieben, die man braucht, um sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, um empathisch oder parteiisch zu werden, um sich in einer literarischen Geschichte selber zu verorten. und Mitgefühl zu entwickeln. Die Studien über die Gehirnaktivitäten beim Lesen legen nahe, dass Menschen, die regelmäßig und viel lesen, eine bessere „Theory of Mind“ haben. Sie empfinden Lesen als etwas Wohltuendes. Ihr Selbstbewusstsein steigt.

Mit der Kritischen Intelligenz (KI) werden die medialen Bedingungen für die Wahrnehmung als Verarbeitung der Sinnesreize neu gesetzt. Am 75. Geburtstag der Max-Planck-Gesellschaft 2023 setzte sich die Forschungseinrichtung u.a. auch mit dieser „Zeitenwende“ auseinander. Auf Ihrer Webseite beschrieb sie das Problem der KI folgendermaßen: „Das menschliche Gehirn zeichnet sich dadurch aus, dass es unseren Körper steuert, Sinneseindrücke verarbeitet und neue Informationen mit bekannten verknüpft. Dadurch können wir Geschehnisse in unserer Umwelt einordnen und vorausschauend denken. Ganz anders die künstliche Intelligenz. Sie verwertet Daten, um eine Vorhersage zu treffen oder eine bestimmte Antwort zu geben.“

Die daraus resultierenden Probleme für die Produktion und Rezeption von Literatur sind noch Zukunft. In der Belletristik werden sie allerdings schon längere Zeit im Genre der Science-Fiction einfallsreich in komplexen Erzählungen ausgeschmückt. Fast immer spielen dann „übermenschliche Gehirne“ eine Rolle, die mit besonderen intellektuellen Fähigkeiten die Geschicke der Menschheit tragisch oder komisch tiefgreifend beeinflussen.
Die KI oder besser die Algorithmen des maschinellen Lernens, die Mediennutzerinnen und -nutzer bereits verwenden oder die in der Forschung entwickelt werden, lösen bisher nur einzelne von Menschen definierte Probleme. Beispiele aus dem Alltag sind ChatGPT, Assistenten wie Siri oder Alexa oder Programme in der Medizin, die Tumore auf Ultraschallbildern erkennen, die selbst erfahrene Ärztinnen und Ärzte ohne sie nur schwer interpretieren können. Fast schon selbstverständlich ist es, dem Computer Regeln beizubringen, nach denen er interaktiv mit den Benutzern des Computers Aufgaben löst. Auf dieser Grundlage hat sich die wachsende Software für Spiele (Games) spezialisiert.

Der KI fehlt aber, was in der menschlichen Intelligenz alltäglich ausgebildet wird: Die Neugier, immer wieder neue Perspektiven aufzusuchen, um auf diese Weise das eigene Weltbild zu festigen und eine soziale Orientierung zu finden. Die „Theory of Mind“, die charakteristisch für das Erschaffen von Literatur wie auch für die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist, bleibt für die Charakterisierung der KI ohne Bedeutung. Literatur zu erstellen und sie im Kontext des medialen Alltags auf den verschiedenen Kanälen so erfolgreich wie möglich zu modulieren, bleibt also eine permanente Aufgabe in der weiteren Geschichte der kulturellen Evolution.

Die Schallwellen verlassen das Ohr über den Hirnnerv (Cortinerv) in Form von elektrischen Impulsen. Der Cortinerv leitet die akustischen Signale dann zum Gehirn weiter. Im Gehirn landen die Informationen im akustischen Cortex. Dieser Bereich des Gehirns ist dafür verantwortlich, die Signale als Informationen zu sortieren und sie als Sinn und Bedeutung zu interpretieren. Im akustischen Cortex finden also eine Selektion und Bewertung der akustischen Signale statt. Das Gehirn kann auf diese Weise zwischen den verschiedenen Tönen und Geräuschen unterscheiden und sie auch als Sprache oder Alarm identifizieren.

Sprache akustisch vermittelt, durch den Erzeuger eines Textes selbst oder durch einen Vermittler, einen Vortragenden von Texten, ist die älteste Form, in der Literatur zur Kultur geworden sind. Die ältesten Epen Indiens, Homers Ilias oder Odyssee, das Nibelungenlied (!) und viele andere Zeugnisse aus der Vergangenheit wurden erst später in Textfassungen überliefert. Ursprünglich waren es Verswerke, die einst gesungen oder von Sängern vorgetragen worden sind. Die künstlichen Formen solcher Sprachwerke trugen dazu bei, dass sie überliefert werden konnten, und dass sich um sie ein ehrfürchtig staunendes Publikum versammelte.
Verse und Rhythmen sorgten dafür, dass sie nicht willkürlich durch den Vortragenden verändert werden konnten. Gerade ihre feste Form erhöhte ihren kulturellen Wert, der oft als Kult inszeniert wurde. Der Sänger, der Priester waren Gestalten in den alten Gesellschaften, die Tradition und Identifikation in den Mittelpunkt des spannenden Lebens rückten. Religion und Kultur flossen in diesen Gesellschaften in Kulten der Einheit zusammen.
Sprechen, Sprache, Lieder, erzählte Epen – aus dieser kulturellen Evolution entstand die Literatur, die noch heute in ihren wesentlichen Fixierungen existiert, den akustisch vermittelten Werken und den in Lesetextformen vermittelten Werken.

Das Hörzentrum ist ein wichtiger Teilbereich im Gehirn. Als Zentrum der auditiven Wahrnehmung verarbeitet es die akustischen Signale in der Großhirnrinde und transformiert sie durch synaptische Schaltungen in Bedeutung und Sinn. Dabei selektiert das Gehirn die akustischen Signale in angenehme und in unangenehme Wahrnehmungen, eine im Laufe des Lebens trainierte und kulturell gepflegte Unterscheidung.
Nicht alle Schallwellen, die es gibt, können wahrgenommen und verarbeitet werden. Ob ein Ton gehört werden kann, ist abhängig von der Frequenz und von der Lautstärke eines Tons. Akustische Signale können höchste Beachtung durch das Gehirn erzwingen. Dann sind alle anderen Sinne ausgeschaltet oder überdeckt. Die einzige Konzentration richtet sich dann auf das richtige Reagieren angesichts des akustischen Alarms. Als angenehm dagegen werden menschliche Stimmen empfunden, in denen Frequenz, Rhythmik und Lautstärke im guten Verhältnis Aufmerksamkeit binden und Verbindungen zu anderen Gehirnregionen aufbauen.

Menschen hören am besten oberhalb der Hörschwelle von 0,2 kHz und unterhalb der akustischen Schmerzschwelle von 20 kHz. Je mehr sich Töne der Grenze von 20 kHz nähern, desto unangenehmer und schließlich sogar schmerzlich werden die akustischen Signale wahrgenommen. Je angenehmer akustische Signale wahrgenommen werden, desto mehr Chancen hat das Gehirn, diese Signale synaptisch mit anderen Funktionsbereichen des Gehirns zu verbinden.
Alarmzeichen werden unmittelbar vom akustischen Cortex verarbeitet. Man kann nur unmittelbar reflexhaft auf den Alarm reagieren. Als angenehm empfundene Signale werden dagegen an andere Gehirnregionen als Informationen weitergeleitet. Das Gehirn setzt sie ganzheitlich als Verstehen um, emotional oder rational.

In der akustisch übertragenen Sprache, besonders in der Literatur, handelt es sich um solche ganzheitlichen Umsetzungen des Hörens. Gelingen sie, dann entsteht eine starke motivierende Wahrnehmung, die als Gratifikation das Verstehen erzeugt. Gelingt sie nicht, werden solche Vermittlungskontakte des Hörens abgebrochen. Das Verstehen kommt nicht zustande.
Muss jemand einem anderen zuhören, der in einer ihm unbekannten Sprache spricht, wird der Kontakt sicher schnell abgebrochen. Die Fähigkeit, gesprochene Sprache synaptisch mit anderen Teilen des Gehirns zu verbinden, setzt lexikalische Gemeinsamkeiten voraus. Nur in solchen Gemeinsamkeiten kann ein spezifisches Wahrnehmungsmuster für Literatur entstehen, dem intensivster Genuss und unendliche Anregungen zu verdanken sind.
Nach den von Sängern vorgetragenen Epen der griechischen Epen entstanden aus ihrem „Stoff“ neue Formen der Vermittlung, die zum Drama und Theater führten. Bis heute ist das Theater der Ort, an dem rationale und emotionale Aktivierungen der Wahrnehmung umfassend und vielseitig stattfinden. Das Erfolgsrezept dieser uralten Rezeptionsweise akustischer Signale ist so überzeugend, dass es die viel späteren Karrieren des Films und in Teilen auch des Fernsehens zu erklären hilft.

Der gesamte Buchhandel setzt jährlich knapp 10 Mrd. Euro um. Gut 43 Prozent dieser Umsätze werden mit der Belletristik erreicht. Nach Genres unterteilt wurden 2023 folgende Marktanteile in der Literatur in Prozent erreicht:

    •    Erzählende Literatur: 51,3 %
    •    Krimis, Thriller: 24,6 %
    •    Humor, Satire Comic : 8,6 %
    •    Geschenkbücher: 8,4 %
    •    Sciencefiction, Fantasy: 5,2 %
    •    Lyric, Drama: 1,3 %
    •    Anthologien: 0,4 %
    •    Mehrsprachige Ausgaben: 0,4 %

Nach wie vor ist das gute alte Buch zum Lesen die verbreitetste Form der Aneignung von Literatur. 2023 lasen in Deutschland täglich über 8 Millionen in einem Buch, von denen jährlich über 64.000 herausgegeben wurden. Etwa ein Drittel des Buchmarktes gehört zur Belletristik.
Wenngleich der Buch- und Lesemarkt leicht rückläufig ist, bekennt sich immer noch ein Viertel der Bevölkerung (über 14 Jahre), regelmäßig oder mindestens gelegentliche Bücher zu lesen. Gerade der Lesemarkt der Belletristik erweist sich auf dem Markt im Vergleich zu anderen Buchsegmenten als stabil, auch bei jüngeren Menschen.

E-Books sind eine Untergruppe des Lesemarktes, da E-Books überwiegend identisch mit der Schreibfassung von gedruckten Büchern sind. 2023 wurden 38 Millionen E-Books vertrieben. Sie erreichen einen Anteil am Gesamtumsatz des Buchmarktes von 6 Prozent. Das mag wenig erscheinen, ist aber das Marktsegment mit jährlich hohen Steigerungen.

Während der Umsatz des Audiobuchs bis 2021 kontinuierlich gestiegen ist, stagnieren die Marktdaten oder fallen sogar leicht. Immerhin nutzen rund 20 Millionen Menschen in Deutschland jährlich Hörbücher. Die Umsätze liegen bei 280 Mio Euro im Jahr. Als eigenständige App für den Computer hat das Hörbuch in seiner Beliebtheit inzwischen die CD weit abgehängt. Täglich greifen in Deutschland rund 8 Millionen Menschen zum Hörbuch, Hörspiel oder Podcast. Etwa 10 Prozent des Belletristikmarktes wird inzwischen mit Hörbüchern gespeist. Vor allem bei jungen, gebildeten Menschen ist das Hörbuch sehr beliebt. Die meisten genießen das Hören zuhause als Entspannung. Aber auch im Zug, Bus oder beim Sport wird das Hörbuch genutzt, sogar als Begleitung während einer anderen häuslichen Tätigkeit, die das Zuhören möglich macht.

Hörbuch, gedrucktes Buch oder E-Book: Was ist am besten? In der Literatur handelt es sich nicht um einen Wettbewerb der Vermittlungsformen, bei dem es einen klaren Sieger oder Verlierer gibt. Jede Vermittlungsform, jeder Träger von Literatur hat seine Vor- und seine Nachteile.

Sich mit ihnen umfassend auseinanderzusetzen, führt direkt zur Idee des Crosslit-Projekts: Die Literaturproduktion kann optimiert werden, wenn Autorinnen und Autoren die Merkmale der drei wichtigsten Trägermedien so gut wie möglich kennenlernen und diese Merkmale bei der Produktion ihrer Werke optimal berücksichtigen.

Das gedruckte Buch zum Lesen hat vorteilhafte Merkmale. Es kann vielfältiger durch die Aktivierung von mehr Sinnen genutzt werden. Es ist ein haptischer Gegenstand, den man sich beliebig zuwenden oder den man beiseitelegen kann. Man kann es sich ansehen, kann sogar seine Papierqualität riechen. Layout, Schrifttypologie, Illustrationen und Aufmachung beeinflussen das Leseerlebnis. Das Lesen erlaubt eigene individuelle Interpretationen der Sprache, setzt eigene Akzente. Es wird individuell durch einen Leserhythmus erschlossen und durch innere Sprechakzente „dramatisiert“. Seine individualisierte Aneignung erlaubt Variabilität und Spontanität beim Lesen. Einzelne Passagen können eher überflogen, andere eher intensiviert gelesen werden. Beim E-Book kommen Vorteile des Computers hinzu, indem beispielsweise im Text weiterführende und erklärende Links gesetzt oder innerhalb des Textkörpers Zusammenhänge ausgewiesen werden.

Das Hörbuch bietet einige andere vorteilhafte Merkmale. Hörbücher brauchen keinen Platz., können überall hin mitgenommen werden, sind also eine überaus praktische in das digitale Gebrauchsgerät integrierte Begleitung. Man muss sich auf keine Buchstaben konzentrieren und ist frei, in welcher Situation man zuhören möchte. Selbst beim Spazierengehen und beim Autofahren kann man Hörbücher genießen. Professionelle Sprechrinnen und Sprecher können geschriebene Geschichten durch die Art des Erzählens lebendig machen, Hörerinnen und Hörer an die Geschichte binden, die erzählt wird. Es ist in doppelter Weise ein Kunstwerk, eine Gestaltung von Literatur zum Hören und eine Gestaltung der Vorlage durch Vortragende.

Schlussendlich lässt sich festhalten, dass das Hörbuch ein beachtliches Marktsegment gewonnen hat und Wachstumspotenziale hat, es aber das physische Buch grundsätzlich nicht verdrängen wird. Autorinnen und Autoren können nur gewinnen, wenn sie Print und Audio nicht austauschbar vereinnahmen, sondern wenn sie die Unterschiede zwischen beiden Vermittlungsformen verstehen, um herauszufinden, wie sie die eine Veröffentlichungsweise genauso wie die andere zu ihrem Vorteil nutzen können.

Seit den 1970er Jahren werden Studien veröffentlicht, die über Vergleiche im Verstehen gelesener und gehörter Texte berichten. Einen generellen Vorteil für einen der beiden Modalitäten gibt es offensichtlich nicht. Vielmehr entscheiden einige Bedingungen der Wahrnehmung, unter denen entweder das Lesen oder das Hören das Verstehen erleichtert und eher wahrscheinlich macht (Sticht T. G., James J. H.: Listening and Reading. In Pearson P. D., Barr R., Kamil M. L., Mosenthal P. (Eds.): Handbook of reading research. 1984, pp. 293ff)

Neuere psychologische und neurowissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass Lesen das Detailwissen, dass Zuhören hingegen das Textverstehen „als eine Geschichte“ optimieren. Das ist bemerkenswert, weil die Vorteile der einen oder der anderen Moderation von Literatur in bestimmten Genres der Textvorlagen deutlich werden. Nahe liegt, dass zum Beispiel wissenschaftliche Text besser als Lesetext verstanden werden als vorgelesene Hörtexte. So wundert es nicht, dass in der Hörbuchforschung die Annahmen gegenläufig sind, wie die Komplexität eines Textes Hörverstehen versus Leseverstehen beeinflussen. In dem Buch „Das Hörbuch: Medium – Geschichte – Formen“ (2010) stellen die AutorInnen J. Häusermann, S.M. Rühr und K. Janz fest, dass sich vor allem konzeptionell mündliche Texte besonders gut für Hörfassungen eignen. Besonders geeignet sind sie, wenn sie syntaktisch weniger komplex sind als Lesetexte. Es liegt nahe, dass die literarische Anlage eines Hörbuchs dieser Form am ehesten gerecht wird, wenn der akustisch vorgetragene Text den Sprechakten näher ist als ein für das Lesen ausgearbeiteter Text.

Im Rahmen der Forschung über Leseschwächen von Jugendlichen hat J. Belgrad die Hypothese erforscht, dass die auditive Rezeption das Textverstehen erleichtert. (Möglichkeit zur basalen Leseförderung durch Vorlesen. In: Alfa-Forum 76 (2011), S. 12-149): „Beim Vorlesen entfällt das eigene, mühsame Dekodieren des Textes. Durch die Entlastung des Dekodierens wird blockierte Verarbeitungskapazität frei für Verstehensleistungen“ Diese freie Verarbeitungskapazität kann genutzt werden, um mentale Modelle des Gehörten zu entwickeln.

Eine Studie der Uni Regensburg hat 2006 nachgewiesen, dass zumindest über einen ersten Zeitraum von 30 Minuten die Aufnahmefähigkeit beim Zuhören um 29 Prozent höher liegt als beim Lesen. Zu Beginn wird die Effizienz des Hörens gegenüber dem Lesen sogar um 44 % gesteigert. Gute Vorlesungen in der Hochschule sind immer noch gut für das Lernen.
(Universität Regensburg, Inst.f. Informationswissenschaft 2006, Anwenderstudie Evluierung Voice Read): „Ohren kann man, im Gegensatz zu Augen, nicht schließen, sodass das Ohr Geräusche ständig wahrnimmt. Allerdings blendet das Gehirn viele Geräusche aus, und das Bewusstsein nimmt nur solche Schallereignisse wahr, die dem Gehirn relevant erscheinen. Hören ist zunächst einmal die akustische Wahrnehmung und Verarbeitung von Schallereignissen (...) Zuhören hingegen meint wesentlich mehr, nämlich die sogenannte auditorische Reizverarbeitung: Wir selektieren den akustischen Reiz, richten die kognitive Aufmerksamkeit darauf aus und interpretieren ihn. Dem Schallereignis wird so Sinnhaftigkeit unterstellt.“

Zuhören ist also eine spezifische Form des Hörens, die darauf ausgerichtet ist, einen Sinn zu suchen und das Gehörte zu verstehen. Diese Kompetenz wird als „Hörverstehen“ bezeichnet.
Zuhören ist eine besondere Konzentrationsleistung, denn ein „wesentliches Charakteristikum gesprochener Sprache ist ihre Flüchtigkeit. Inhalte müssen vom Hörer in Echtzeit verarbeitet werden“ (M. Imhof, Zuhören. Psychologische Aspekte auditiver Informationsverarbeitung, Göttingen 2003, S.11). Von Zuhören soll, so Margarete Imhof, gesprochen werden, wenn akustisch vermittelte Information sprachlicher wie auch nichtsprachlicher Art (z.B. Musik) selektiert, organisiert, interpretiert und integriert wird. Zuhören gelingt nur mit einer hohen Beanspruchung des Arbeitsgedächtnisses. Außerdem setzt es Sensibilität für die Akzentuierung, Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus und Klangfarbe des Gesprochenen voraus. Kein Wunder, dass die Mutter für Kinder zunächst die beste Vorleserin ist. Erst im Lauf ihres Lebens entwickeln Menschen immer anspruchsvollere Leistungen im Hörverstehen und beim Zuhören.

Ergänzend zu den offensichtlichen Leistungen, die Hörerinnen und Hörer mit Autorinnen und Autoren für die eigenständige Entwicklung des Typus Hörbuch einbringen, soll am Ende dieser Differenzierungsversuche menschlicher Wahrnehmungen eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2016 stehen, die ein hohes Lob auf das permanente Lesen von Büchern unterstützt: (A. Bavishi, M. D. Slade, B. R. Levy: Yale University School of Public Health, Laboratory of Epidemiology and Public Health - A chapter a day - Association of book reading with longevity. Yale university 2016).
Die Autorinnen und Autoren sind überzeugt: Ein gutes Buch ist wie eine wirksame Medizin ohne Nebenwirkungen.

Zu dieser Überzeugung kamen sie, nachdem sie die Daten von 3.600 Probanden über einen Beobachtungszeitraum von 12 Jahren ausgewertet hatten. Diese Probanden waren zu Beginn der Studie mindestens 50 Jahre alt und waren in drei Gruppen aufgeteilt, in

  • Nichtleser
  • Leser, die bis zu 3,5 Stunden pro Woche lesen
  • Vielleser, die mehr als 3,5 Stunden pro Woche lesen

Nach Ablauf der zwölf Jahre wollten die Wissenschaftler der Yale University wissen: Wer von den Probanden lebt in welchem Gesundheitsstatus, wer ist bereits gestorben und wie verteilen sich die Probanden der drei zuvor gebildeten Gruppen? Das Ergebnis der Yale-Studie: Die Lebenserwartung der Probanden, die wöchentlich bis zu dreieinhalb Stunden lasen, war 17 Prozent höher als die Lebenserwartung der Nichtleser. Bei den Viellesern, die pro Woche mehr als dreieinhalb Stunden lesen, lag die Lebenserwartung sogar 23 Prozent höher. Um ganz sicher zu gehen, dass sich nicht andere Variablen wie Einkommen und Lebensstandard, Alter, Beziehungsstatus und Bildungsstand auf die Ergebnisse auswirkten, berücksichtigten die Forscher diese Faktoren der allgemeinen Gesundheitsstatistik in ihrer empirischen Auswertung.
Das Ergebnis blieb unverändert: Bücherwürmer leben länger als die Nichtleser - im Durchschnitt fast zwei Jahre.
Hinweise dieses Tatbestandes hatten die Forscher bereits in anderen Studien gefunden wie zum Beispiel über die Stressminderung durch das Lesen. Denn Lesen – und vermutlich auch das Hören von Hörbüchern - hat viele positive Auswirkungen auf Körper und Geist: Es fördert die Vorstellungskraft und die Fantasie, hilft zu entspannen und vermittelt neues Wissen.


Wer regelmäßig liest, stimuliert das eigene Gehirn, trainiert kognitive Fähigkeiten und verbessert den Wortschatz und die Konzentrationsfähigkeit. Das alles trägt zur physischen Gesundheit und zum Wohlbefinden bei. Man kann auch behaupten, dass die Zeit, die man mit dem Lesen verbringt, einem am Ende wieder gutgeschrieben und in Form von Lebenszeit ausbezahlt wird.